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Frankfurter Allgemeine

15.8.2020

Malven für die Stadtrebellion

Zürich und Berlin haben eine zart blühende Gemeinsamkeit, die beinahevergessen lässt, dass die beiden Städte auch eine dunkle Vergangenheit teilen:Stockrosen – von Anwohnern und den urbanen Gärtnern geliebt, von den Behörden inzwischen immer öfter geduldet.


TEXT SONJA KASTILAN
Bild Charlotte Wagner

Zürich und Berlin, dazwischen liegen Welten. Und doch haben die beiden Städte mehr miteinander gemein, als es 840 Kilometer Autobahn oder achteinhalb Stunden Zugfahrt, die zu bewältigen wären, auf den ersten Blick erscheinen lassen. Da ist nicht nur die Nähe zum Wasser samt sommerlichem Hedonismus, zu dem sich die supersportlichen Schweizer in der Badi hinreißen lassen. Wer möchte so nicht gerne die Mittagspause verbringen – schwimmend, in Limmat, Spree und See, während andere lieber tanzen und auf der nächsten „Street Parade“ wieder für viel mehr als Eierkuchen demonstrieren. Im Rave vereint, teilen die Städte auch eine traurige Drogenvergangenheit, die Bahnhof Zoo und Platzspitz verbindet, als Needle Park hinter dem Landesmuseum einst berüchtigt. Geradezu tröstlich erscheint da eine weitere Gemeinsamkeit, die zwei Meter und höher aufragen kann, weithin sichtbar in Pastell leuchtend, von Apricot bis Zitronengelb, in Weiß, Rosa, Rot oder tiefdunkel „Nigra“: Stauden der Stockrose (Alcea oder Althaea rosea, im Englischen Hollyhock) verleihen urbanen Brachen den Flair schmucker Bauerngärten.

Wo das mehrjährige Malvengewächs in der Randzone gedeiht, mal mit schlichten Blüten, handtellergroß, mal gefüllt, trifft Landlust auf Matcha Latte, vegane Bowls und Eis mit Salzkaramell oder Marshmallows. Die Pflege liegt selten in Händen des Grünflächenamtes, meist ist die Pracht Anwohnern oder Ladenbesitzern zu verdanken, die rings um Straßenbäume die Gunst zur Grünanlage nutzen.

© Charlotte Wagner
Wildwuchs, auch kein Unkraut: Urbane Gärtner lieben die robusten Stockrosen, diemehr als zwei Meter hoch aufragen können und so die „Baumscheiben“ am Straßenrandzieren.

Für die „Baumscheiben“ werden Patenschaften erteilt, es gibt Pflegevereinbarungen und eine erstaunlich lange Reihe von Regeln, die für solche Minigärten im „gewidmeten Straßenland“ zu beachten sind. Manchmal wird mit so großem Eifer gegärtnert, dass selbst auf dem Trottoir um die Verkehrssicherheit gefürchtet und aus Pflicht dazu gehandelt werden muss. Erst kürzlich schritt in Berlin-Schöneberg deshalb das Bezirksamt ein – befreite den Bürgersteig von illegalen Pflanzgefäßen, Rankhilfen sowie Mosaiksteinen. Im vergangenen Jahr hatte man noch einzelne Sonnenblumen und Stockrosen toleriert, jetzt ging die Umgestaltung offenbar zu weit: Das Pflaster wurde zwangsgeräumt.

Illegale Machenschaften auf dem Trottoir

Die Toleranz der Zürcher Behörden forderte schon in den 1980er Jahren ein Mann mit robusten Malven heraus. Denn die Stockrose „blüht auf Augenhöhe“ und wurde mit Blumengraffiti zum Markenzeichen von Maurice Maggi, wobei der gelernte Landschaftsgärtner und Koch – je nach Quartier – auch die Samen vieler anderer, einheimischer Pflanzen verteilt. Als „Blumenrebell“ hat ihn die NZZ porträtiert, und mittlerweile dient das, was der frühe Guerrilla-Gärtner zunächst nur heimlich wagte, dem Citymarketing. Florale Anarchie führt bei ihm subversiv zu einer „essbaren Stadt“, wie, das lässt sich auf seiner Internetseite nachlesen.

Wildwuchs im öffentlichen Raum, das mag all jene provozieren, die Malven für Unkraut halten. Aber die Stockrose ist nicht nur hübsch, sie gilt in Europa und Asien traditionell als Arzneipflanze. Sie soll Schleim lösen und bei allerlei Zipperlein helfen, reich an Tanninen und Anthocyanen, werden ihr entzündungshemmende und antibakterielle Eigenschaften zugeschrieben; Mongolen mischen sie mit anderen Malvaceae in eine Rezeptur namens Zhanba. In Berlin und Zürich geduldet, blüht mit den Stockrosen die Kiezkultur auf, an der es andernorts mangelt: Wo bleibt da die malvensanfte Rebellion?

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