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Welt am Sonntag

22.5.2016

Ja, aus Buchen oder Fichten kann man Essen machen

Nach den Wildkräutern sind nun die Bäume dran. Aus Buchen, Fichten und Birken lassen sich wunderbare Gerichte zubereiten. Ein Stadtspaziergang mit einem Zürcher Wildpflanzen-Experten, der auch mal Julia Roberts Terrasse begrünt hat.

Ein wenig ist es, als hätte man eine neue Brille auf, mit der so eine europäische Großstadt auf einmal ganz anders aussieht. Statt Gebäuden, Geschäften und Gegenverkehr besteht sie vor allem aus: potenziellem Abendessen, superfrisch und erntereif.


Und so bleibt man auf einem Zürich-Spaziergang mit Maurice Maggi vor Linden stehen, vor Buchen, Ahornbäumen, Birken und Fichten. Maggi (italienisch mit dsch ausgesprochen) mustert die Zweige, pflückt ein zartes Blatt und reicht es einem zur Verkostung. Hat man sich einmal daran gewöhnt, Laub und Nadeln zu essen – also nach zwei Minuten –, kommt einem die Frühlingsstadt vor wie ein reicher Garten vor dem eigenen Haus, den man bislang einfach übersehen hat. Man lernt: Junge Ahornblätter schmecken nussig, Rotbuche ein wenig wie Sauerampfer, Fichtensprösslinge kaum nach Badezusatz, dafür frisch und säuerlich.


Wildpflanzen sind gesünder als Supermarkt-Gemüse

„Wildpflanzen haben ein Vielfaches mehr an Vitaminen, Mineral- und Nährstoffen als gekauftes Gemüse“, sagt Maggi. „Deswegen sind sie sättigender.“ Der 60-Jährige ist Koch, gelernter Landschaftsgärtner und Wildpflanzen-Experte. Ein Guerilla-Gärtner „avant la lettre“, sät und erntet er seit mehr als 30 Jahren im öffentlichen Raum. So wurde er von einem stillen Aktivisten, der ungenutzte Flächen wild bepflanzte und damit gegen die Herbizid-Politik Zürichs anging, zu einem Aushängeschild, mit dem sich heute Stadtmarketing für ein lebenswertes Zürich betreiben lässt.

Die Nutzung von dem, was Bäume ganz nebenbei hergeben, könnte ein kleiner Teil des Modells werden, mit dem die Versorgung in Städten abseits der Glyphosat-Landwirtschaft gelingen kann. In einer nahen Zukunft, in der die Menschen von dem leben, was das unmittelbare Umland, Indoor-Farming und die urbane Landwirtschaft auf Hausdächern, in Stadtgärten und auf Grünflächen hergeben.

Blättersalat aus Baumblättern und Wildkräutern Quelle: Daniel Auf der Mauer

„Man sagt, dass das durchschnittliche Kind vor einhundert Jahren noch etwa 150 essbare Pflanzen kannte“, erzählt Maggi. „Wenn das Essen zu Hause knapp war, schickte man die Kinder raus, um sich ihre Nahrung selbst zu sammeln. Kinderbrot hieß das.“ Wildpflanzen waren damals oft die einzige Möglichkeit, etwas Frisches zu essen. In den Aufschwungjahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatte dann niemand mehr Lust, sich für seine Mahlzeiten zu bücken oder zu strecken.
Während das Pilzesammeln auch bei uns, noch stärker aber in Osteuropa die Jahrhunderte (und die Tschernobyl-Angst) überlebt hat und laut einer Studie immer noch ganze 14 Prozent der Europäer regelmäßig im Wald Pilze und Beeren sammeln, ging das Wissen um den Nutz- und Nahrungswert von Bäumen irgendwann verloren.
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Bis die Natur wieder in Mode kam. Nachdem Köche wie Marc Veyrat und Jean-Marie Dumaine und die jüngere Generation der neuen nordischen Küche Wildpflanzen zurück auf den Teller gebracht hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis der kulinarische Blick von den Wegrändern und Wiesen auch zu den Wipfeln schweifte.
Mittlerweile haben gehobene Restaurants neben Wildkräutern wie Sauerampfer, Sauerklee und Waldmeister auch Baumzutaten auf der Karte. So wird der Rhabarber im „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin-Mitte mit Kirschpflaumenblüten serviert, der Ziegenfrischkäse im Kreuzberger „Tulus Lotrek“ mit Fichtensprossen, der Käse mit Mispel-Marmelade, die Jakobsmuschel mit Wacholderholz und Birkenwasser. Im Züricher Sternehaus „Equi Table“, das neben regionalen auch auf fair gehandelte Zutaten setzt, kombiniert man Mangold mit Edamame, Spargel und Kornelkirsche, die rote Frucht des gleichnamigen Hartriegel-Strauchs.


Blätter und Triebe sammeln, ist nicht verboten

Schon wurde Birkensaft oder -wasser (nicht zu verwechseln mit dem, was sich Opa in die Haare schmierte) zum nächsten Trendgetränk ausgerufen. Noch gesünder als Kokoswasser. Gezapft wird es durch das Anritzen der Rinde, von wo es in Flaschen läuft. Das dürfte sich im öffentlichen Raum eher schlecht realisieren lassen – anders als das Sammeln von Blättern und Trieben.

Das ist für den Privatgebrauch legal und zudem kostenlos. Nicht so in New York, wo Maggi ein paar Jahre kochte, als Gärtner Julia Roberts Terrasse begrünte und Bankfilialen mit Weihnachtssternen dekorierte. Im Central Park ist das Sammeln verboten, aber in Chinatown lernte Maggi die Vorzüge der Ginkgo-Frucht kennen. In unseren Breiten herrschen noch keine festen Regeln – und wenn, sind sie oft überholt. So darf man in der Schweiz keine Rottannen-Sprösslinge sammeln, weil die Leute daraus früher Melasse herstellten und die Bäume durch das massenhafte Abernten litten.


Baumschössling-Risotto zu Blattsalat mit Schlüsselblumen-Essig Quelle: Daniel Auf der Mauer


Maggi plädiert beim Bäume-Essen dafür, seinen Verstand zu bemühen: Hände weg von geschützten Pflanzen. Nur so viel mitnehmen, wie man braucht. Besonders bei Tannen Vorsicht walten lassen, weil die Triebe nicht nachwachsen. Die Reviere von Hunden, Kneipengängern und Volksfesthorden meiden. „Ich beachte die Doggenhöhe“, so Maggi. Bedenken wegen Schadstoffen zerstreut er damit, dass die genießbaren jungen Blätter selten älter als zwei Wochen sind, also wenig Kontakt mit Feinstaub hatten. Sammelgut waschen, versteht sich. Im Übrigen reiche es, sich bei hygienischen Bedenken vor Augen zu halten, dass auf einem gewöhnlichen Erdbeerfeld 200 Pflücker stehen und zwei Chemietoiletten. Wie unberührt ist dagegen ein Stadtbaum.


Friedhofswiesen sind wegen der Leinenpflicht hervorragende und zudem ungedüngte Gebiete für Stadtsammler. Auf dem Friedhof Sihlfeld, eine von Zürichs größten Grünanlagen, sammelt Maggi auf unserem Spaziergang Rotbuchenblätter und Triebe des Japanischen Staudenknöterichs. Letzterer gehört zu den Neophyten, also den ehemals nicht heimischen Pflanzen, die sich hier etabliert haben. Der Knöterich ist extrem invasiv, er wächst am Tag bis zu 30 Zentimeter und gilt in ganz Europa als biologische Katastrophe, weil er andere Arten verdrängt und die Biodiversität gefährdet. Mit dem Ernten der Triebe (und dem Entsorgen der Reste im Hausmüll statt auf dem Kompost!) ermüdet man die Pflanze auf Dauer. Kulinarischer Umweltschutz.

Auch Vogelbeeren sind essbar

Mit „Essbare Stadt“ hat Maggi ein Kochbuch zum Thema herausgebracht. Unterteilt nach Jahreszeiten, liefert er verführerische, größtenteils vegetarische Rezepte. Und eines mit Taube – auch ein wilder Großstadtbewohner. Während der Frühling die beste Zeit für zarte Baumblätter und Wildpflanzen wie Brennnesseln, Spitzwegerich und Giersch ist, eignen sich wenig später die Blüten von Holunder bis Wildrose zum Kochen. Im Spätsommer und Herbst sind dann Bucheckern, Schwarzdorn und die nach dem Kochen völlig ungiftigen Vogelbeeren dran. Fernhalten sollte man sich lediglich vom giftigen Goldregen und, abgesehen von den Blüten, vom Flieder. Ansonsten empfehlen sich die Wildpflanzen-Bestimmungsbücher von Steffen Guido Fleischhauer.

Die Mahlzeit, die Maggi aus der Ausbeute des Spaziergangs kocht – Baumschössling-Risotto zu Blattsalat mit Schlüsselblumen-Essig –, schmeckt ganz hervorragend. Und die Stadt sieht man nie mehr mit den gleichen Augen.

Nach Wildkräutern sind nun Bäume dran. Aus Buchen, Fichten und Birken lassen sich wunderbare Gerichte machen. Ein Spaziergang mit einem Wildpflanzen-Experten, der auch Julia Roberts Terrasse begrünte.

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